Das erste Stand-up Meeting mit Herrn M und seinen Mitarbeitern war ein spannender Moment. Alle standen vor dem neuen Board, etwas unsicher, etwas gespannt. Für viele war es ungewohnt, ihre Arbeit, ihre Probleme und ihre Stimmung so offen zu zeigen. Doch genau darum ging es: Transparenz schaffen.
Jeder Mitarbeiter kam an die Reihe. Manche berichteten sachlich, andere etwas zögerlich. Schnell wurde klar: das Board funktionierte. Es half, den Überblick zu bekommen. Es half, Blockaden sichtbar zu machen. Und es half vor allem, gemeinsam Lösungen zu finden.
Herr M stand daneben, hörte aufmerksam zu, fragte nach, machte sich Notizen. Man spürte, dass er sich ernsthaft dafür interessierte, was seine Leute beschäftigte. Als ein Mitarbeiter ein Problem schilderte, das schon länger im Verborgenen schlummerte, fragte Herr M direkt: „Wie können wir das gemeinsam aus dem Weg räumen?“ – und er meinte es ehrlich.
Am Ende des Stand-ups blickten alle noch auf das Stimmungsbarometer am unteren Ende des Boards. Jeder setzte seinen Strich. Ein lachendes Smiley, ein neutrales oder ein trauriges. Es war erstaunlich, wie offen die Mitarbeiter damit umgingen. Für Herrn M war das ein kleiner Schock und zugleich ein großer Gewinn: Er konnte sofort sehen, wie es seinem Team wirklich ging.
Nach dem Meeting sagte er zu mir: „Das war anstrengend – aber auch unglaublich wertvoll. Ich habe in einer Viertelstunde mehr über mein Team erfahren als sonst in einem ganzen Monat.“
In diesem Moment wusste ich: Ein wichtiger Schritt war getan. Herr M begann, die wahre Kraft von Führung zu spüren – nämlich zuzuhören, nachzufragen und Hindernisse gemeinsam mit seinem Team aus dem Weg zu räumen.
Doch das war erst der Anfang. Jetzt galt es, das neue Ritual konsequent durchzuhalten – Tag für Tag, immer wieder. Nur so konnte es seine volle Wirkung entfalten….
Fortsetzung folgt …
Nach unseren Gesprächen über Führung und Selbstbild war für mich klar: Wenn Herr M. wirklich etwas verändern wollte, musste er sich selbst im Alltag erleben. Ungefiltert. Also machte ich ihm einen Vorschlag:
„Lassen Sie mich Sie ein paar Tage bei Ihrer täglichen Arbeit begleiten. Ich beobachte, wie Sie führen, wie Sie kommunizieren – und gebe Ihnen direkt, ehrlich und zeitnah Feedback.“
Er zögerte kurz, dann sagte er: „Das brauche ich. Machen wir.“
Ich begleitete ihn durch seinen Arbeitsalltag – beobachtend, zurückhaltend, aber aufmerksam. In Meetings, bei Gesprächen mit Mitarbeitern, zwischendurch auf dem Flur. Es dauerte nicht lange, bis sich ein klares Bild zeigte: Herr M. versuchte Konflikten aus dem Weg zu gehen, regelte Spannungen mit freundlichen Worten, wo klare Ansagen nötig gewesen wären, kam immer ein irgendwie seltsam freundliches Grinsen. Er war bemüht, Harmonie zu schaffen – und verlor dabei oft die Führung.
Am Abend setzten wir uns zusammen. Ich beschrieb ihm meine Beobachtungen, offen und respektvoll. Keine Vorwürfe, kein Urteil – nur ein ehrliches Spiegelbild dessen, was ich gesehen hatte.
Herr M. hörte aufmerksam zu. Er nickte oft, sagte lange nichts. Und dann, plötzlich, kämpfte er mit den Tränen. „Ich wusste, dass ich mich nicht traue, klare Entscheidungen zu treffen. Aber so deutlich hat es mir noch nie jemand gezeigt.“

Es war ein bewegender Moment. Kein Zusammenbruch – sondern eine ehrliche, menschliche Reaktion auf eine Wahrheit, die lange unter der Oberfläche geschlummert hatte. Ein Moment, in dem Veränderung nicht mehr nur ein Ziel war, sondern eine Notwendigkeit. Und eine Chance.
Ein paar Tage später stellten wir die nächste Frage:
„Was ist eigentlich Ihre Vision für dieses Unternehmen?“
Herr M. griff mit gewohnter Sicherheit in die Schublade und legte mir ein Dokument vor. „Hier, das ist unsere Vision.“
Ich las. Es war gut formuliert, professionell aufbereitet – doch es war keine Vision. Es war eine Beschreibung des Status quo. Eine Aufzählung dessen, was das Unternehmen heute leistet. Kein Bild von dem, was es einmal sein will.
Ich sah ihn an und sagte ruhig:
„Das ist keine Vision. Das ist ein Ist-Zustand.“
Er schwieg. Dann: „Dann müssen wir da wohl auch nochmal ganz von vorne anfangen.“
Ich bot ihm an, ihn bei diesem Prozess zu begleiten – bei der Entwicklung einer echten Vision, die Orientierung gibt, motiviert, und die auch den Mitarbeitern zeigt, wofür sich ihr Einsatz lohnt. Herr M. nahm das Angebot dankbar an.
Es war kein Rückschritt. Es war der erste echte Schritt nach vorn.
Gedanken am Abend
Manchmal, am Ende eines langen Tages, setzte ich mich in mein kleines Büro. Keine Gespräche, keine Zettel an der Wand – nur ich, mein Notizbuch und der leise Nachhall des Tages. Und an diesen Abenden dachte ich oft:
Wie konnte dieses Unternehmen all die Jahre überhaupt funktionieren?
Kein echtes Leitbild, keine gemeinsame Richtung, kein stabiles Führungsverständnis – und trotzdem hatte es wirtschaftlich über weite Strecken funktioniert. Das war bemerkenswert. Vielleicht sogar ein bisschen absurd.
Und gleichzeitig war mir klar: Dieses Unternehmen war im Kern eine Goldgrube. Mit dem richtigen Fokus, mit klarer Führung, mit einem gemeinsamen Ziel – hier schlummerte ungeahntes Potenzial.
Also begann ich, für mich selbst einen Fahrplan zu entwerfen. Einen Weg, wie ich Herrn M. helfen konnte, „härter“ zu werden – nicht im zwischenmenschlichen Sinn, sondern im Verständnis von Verantwortung, Klarheit und Konsequenz. Härter zu sich selbst. Und härter gegenüber den Prozessen, die tagtäglich über Erfolg oder Misserfolg entschieden.
Konflikte dürfen nicht weggeschoben werden, bis sie explodieren. Führung heißt nicht, es allen recht zu machen – sondern für das Ganze Verantwortung zu übernehmen.
Ich schrieb diesen Fahrplan für Herrn M.
Für sein Unternehmen.
Und auch für seine Mitarbeiter.
Die Arbeit begann gerade erst.