Eines Tages trat Herr M. in mein Büro, mit einem Ausdruck zwischen Stolz und Unsicherheit, den ich gut kannte. „Holger“, begann er, „ich habe zwei neue Mitarbeiter eingestellt.“ Ich nickte, ließ ihn weitersprechen, bereit, zuzuhören. „Einer von ihnen soll die Niederlassungsleitung übernehmen.“
Ich spürte ein leises Stirnrunzeln, das ich kaum unterdrücken konnte. Gerade hatten wir gemeinsam ein Organigramm erstellt, die Verantwortlichkeiten klar verteilt, die Rollen der Mitarbeiter sorgfältig definiert. Und nun kündigte Herr M. quasi aus dem Nichts eine Veränderung an, die alles durcheinanderbringen konnte. Innerlich fragte ich mich sofort, welches Ziel er mit dieser Entscheidung verfolgte. Aber ich wusste auch: Es war seine Entscheidung, und als Unternehmensbegleiter durfte ich nicht direkt eingreifen, sondern musste vorsichtig vorgehen. Ich musste ihm die Möglichkeit geben, seine eigenen Gedanken zu sortieren und seine eigenen Antworten zu finden.
Ich erinnerte mich an meine eigene Methode: Ich bin kein Personalberater, der fertige Lösungen liefert. Meine Aufgabe war es, Menschen durch gezielte Fragen dazu zu bringen, ihre eigenen Erkenntnisse zu gewinnen. Ich hatte lange überlegt, ob ich Herrn M. direkt meine Einschätzung geben sollte – doch ich entschied mich dagegen. Es war wichtig, dass er den Prozess selbst durchläuft, auch wenn es unbequem war. Und zunächst schien er darüber nicht besonders glücklich zu sein. Die Idee, Fragen zu beantworten, statt klare Antworten zu bekommen, irritierte ihn eher, als dass sie ihn sofort motivierte.
Trotzdem beobachtete ich, wie er versuchte, die Situation zu erklären, ohne sich selbst zu verlieren. Ich spürte, dass er innerlich zwischen Begeisterung über die neuen Mitarbeiter und Unsicherheit über die organisatorischen Konsequenzen hin- und hergerissen war. Für mich war klar: Die eigentliche Herausforderung bestand nicht darin, neue Leute einzustellen, sondern darin, die eigene Führungsrolle und die Richtung des Unternehmens in Einklang zu bringen.
Als er mir die Namen der beiden Vertriebsmitarbeiter nannte und erklärte, welcher die Niederlassungsleitung übernehmen sollte, war ich überrascht. Ich hatte damit nicht gerechnet – zumal wir gerade erst die Struktur des Unternehmens gemeinsam analysiert und optimiert hatten. Ich spürte, wie ein kleiner Riss in unserem bisher stabilen Vertrauensverhältnis aufkam. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob er wirklich bereit war, meine Hinweise ernsthaft zu reflektieren oder ob er eigene Wege gehen wollte, ohne sie mit mir abzustimmen.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Mein Ziel war es, weiterhin die Rolle des Beobachters und Fragenden einzunehmen, um ihn dazu zu bringen, seine Entscheidungen selbst zu hinterfragen. Ich wusste, dass dies Geduld erfordert – besonders bei einem Unternehmer wie Herrn M., der gewohnt war, schnell und entschlossen zu handeln.
In den Wochen danach beobachtete ich genau, wie sich die neue Situation entwickelte. Herr M. schien anfangs unsicher, versuchte jedoch, seine Entscheidung zu rechtfertigen – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber den Mitarbeitern. Ich nutzte weiterhin meine Fragetechnik, stellte gezielte Fragen zu seinen Erwartungen, zu den Rollen der neuen Mitarbeiter und zu den möglichen Konsequenzen. Es war ein Balanceakt: Ich wollte ihn nicht bevormunden, aber gleichzeitig musste ich sicherstellen, dass er die Auswirkungen seiner Entscheidung reflektierte.
Mit der Zeit bemerkte ich kleine Veränderungen. Herr M. begann, seine Entscheidungen bewusster zu hinterfragen, über mögliche Reaktionen der Mitarbeiter nachzudenken und Strategien zu entwickeln, um die Integration der neuen Kollegen zu erleichtern. Es war nicht spektakulär, aber spürbar. Ich erkannte, dass das Vertrauen zwischen uns zwar einen Moment lang wackelte, aber durch diese Geduld und die Art der Fragestellungen sogar stabilisiert wurde – wenn auch auf eine andere Weise als zuvor.
Für mich wurde klar: Führung ist nicht nur das Treffen von Entscheidungen oder das Setzen von Zielen. Führung bedeutet, Vertrauen zu gestalten, Eigenverantwortung zu ermöglichen und Menschen durch kluge Fragen dazu zu bringen, über ihre eigenen Schritte nachzudenken. Manchmal ist der unbequemste Weg der richtige, weil er die Führungskraft zwingt, selbst zu wachsen – genauso wie die Mitarbeiter, die von ihren Entscheidungen betroffen sind.
Und so schloss sich für mich ein Kreis: Ich hatte lange überlegt, ob ich Herrn M. direkt beraten sollte. Ich hatte mich dagegen entschieden und mich stattdessen auf Geduld und gezielte Fragen verlassen. Am Ende zeigte sich, dass genau dieser Ansatz dazu führte, dass Herr M. begann, sein eigenes Führungsverhalten kritisch zu reflektieren – und dass er gleichzeitig begann, die Verantwortung für die neuen Mitarbeiter wirklich zu tragen. Ein leises, aber entscheidendes Fundament für die nächsten Schritte des Unternehmens war gelegt…